Digitale Zwillinge sind nicht nur eine Trendtechnologie, sondern ein Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Digitalisierung. Allerdings sollten Unternehmen bei all den technischen Möglichkeiten nicht den Praxisfokus verlieren. Jede neue Technologie muss zunächst in die Wertschöpfungsprozesse der Organisation eingebunden werden, bevor sie ihr Potential ausschöpfen kann. Im Kontext digitaler Zwillinge fällt diese Aufgabe einer IT-Lösung zu, die schon heute Geschäftsprozesse in digitaler Form greifbar macht: dem ERP-System.

Was ist ein digitaler Zwilling?

Ein digitaler Zwilling (englisch „Digital Twin“) ist ein virtuelles Modell, das ein physisches System in digitaler Form abbildet. Ein physisches System ist in diesem Kontext eine beliebige Kombination aus Menschen, Maschinen, Anlagen, Geräten oder Prozessen sowie deren Relationen zueinander. Die Komplexität des Systems spielt dabei keine Rolle. Ein digitaler Zwilling kann ein einzelnes Produkt, aber auch die komplette Fertigungsumgebung eines mittelständischen Unternehmens abbilden.

Jedoch ist ein digitaler Zwilling kein statisches Konstrukt, sondern eine dynamische Modellierung. Er bildet nicht nur den Aufbau des physischen Systems ab, sondern auch die Zusammenhänge zwischen den Komponenten. Das heißt: Ein digitaler Zwilling kann das Verhalten eines Systems so emulieren, wie es in der Realität abläuft oder ablaufen würde.

Vereinfacht gesagt ist ein digitaler Zwilling eine Schnittstelle zwischen der virtuellen und der realen Welt. Er ist ein detailliertes Modell, das von angebundenen Software-Systemen interpretiert und weiterverarbeitet werden kann. Diese Schnittstellenfunktion ist das, was einen digitalen Zwilling von ähnlichen Technologien unterscheidet.

Konstruktions-Software kann beispielsweise ebenfalls das Verhalten eines Objekts simulieren. Aber diese Simulation basiert auf den Vorgaben des Anwenders, nicht auf aktuellen Sensordaten. Ein digitaler Zwilling ist dagegen über vernetzte Sensoren mit der Hardware-Ebene verbunden. Er verarbeitet somit tatsächliche Betriebsdaten wie Temperaturen, Vibrationen oder Energieverbrauch.

Zugleich ist ein digitaler Zwilling auch kein reines Monitoring-Tool für IoT-Sensordaten. Er verknüpft Informationen aus einer Vielzahl von IT-Systemen zu einem detaillierten Modell der Wirklichkeit. Sensordaten sind lediglich ein Teil dieser Abbildung. Hinzu kommen z. B. noch Informationen aus MES, PDM-, ERP- oder Instandhaltungssystemen, die das Modell vervollständigen.




Laut einer Gartner-Studie von 2018 haben 13 Prozent der Unternehmen mit laufenden IoT-Projekten einen digitalen Zwilling im Einsatz. 62 Prozent bauen gerade ein entsprechendes Projekt auf oder planen, es zu tun.


Was ist der Mehrwert?

Mit einem digitalen Zwilling können Unternehmen physische Objekte in eine virtuelle Umgebung einbetten. Diese Verknüpfung ermöglicht zahlreiche Einsatzszenarien, z. B. Datenanalysen, Echtzeit-Monitoring, Automatisierungen, Simulationen oder bereichsübergreifende Workflows.

Für sich genommen ist ein digitaler Zwilling lediglich ein technologischer Ansatz – ein Werkzeug, das noch keinen Mehrwert generiert. Sein wahrer Nutzen offenbart sich erst im Kontext eines konkreten Einsatzszenarios.

In der Produktion sind zum Beispiel folgende Anwendungsbereiche denkbar:

  • Monitoring der kompletten Produktionsumgebung
  • Simulation von Produktionsaufträgen
  • Predictive Maintenance
  • Smarte Instandhaltung
  • Energiemonitoring
  • Prototyping

Betrachten wir eines dieser Szenarien etwas genauer: Die smarte Instandhaltung.

Als Beispiel dient uns ein mittelständisches Unternehmen, das seine Produktionsumgebung in einem digitalen Zwilling abbildet. Vernetzte Sensoren innerhalb der Maschinen und Produktionsanlagen liefern permanent Echtzeitdaten, die innerhalb des virtuellen Modells weiterverarbeitet werden und dem Monitoring der Fertigung dienen.

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Innerhalb der Maschinen und Produktionsanlagen Echtzeitdaten zum Monitoring der Fertigung.

Angenommen, eine Fräsmaschine zeigt mechanische Verschleißerscheinungen, die die Qualität der bearbeiteten Komponenten beeinträchtigen. Die Sensorik der Maschine bemerkt, dass die Abnutzung einen definierten Schwellenwert übersteigt, und schlägt Alarm. Diese Meldung löst automatisch Ereignisse in weiteren IT-Systemen aus:

  • Das Instandhaltungssystem erstellt ein Support-Ticket mit einer Wartungsanfrage.
  • Das ERP-System überprüft, ob die nötigen Ersatzteile vorhanden sind, und bestellt gegebenenfalls Material nach.
  • Das APS-System registriert den temporären Ausfall der Maschine und passt zukünftige Planungsvorgänge entsprechend an.

Dieses Szenario verdeutlicht zwei Charakteristiken eines digitalen Zwillings. Zum einen beschreibt es ein virtuelles Objekt, das die physische Fräsmaschine in der digitalen Welt spiegelt und die gemessenen Sensordaten enthält. Dieses Objekt kann die beschriebenen Systeme direkt ansprechen, da beide Teil des digitalen Zwillings (oder zumindest damit verbunden) sind.

Zum anderen verdeutlicht das Beispiel, dass ein digitaler Zwilling niemals isoliert existiert. Er bildet immer ein Netzwerk mit anderen Software-Systemen. Ein digitaler Zwilling ist zugleich Schnittstelle und Informationsquelle. Alleine kann er nur wenig bewirken. Aber er kann andere Software-Lösungen mit Input versorgen und dort Aktionen auslösen. Daher sollte ein digitaler Zwilling immer im Kontext der gesamten IT-Landschaft eines Unternehmens betrachtet werden.

Um sein wahres Potential zu entfalten, braucht ein digitaler Zwilling Kontext. Er muss Teil einer IT-Infrastruktur sein, die Informationen aus der virtuellen Welt in der Realität umsetzt. Als Schnittstelle ist ein ERP-System hervorragend geeignet.

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Welche Rolle spielt das ERP-System?

Neben der IoT-Plattform (der technologischen Basis eines digitalen Zwillings) ist das ERP-System die wohl wichtigste Komponente jeder betrieblichen Digital-Twin-Infrastruktur. Es bildet eine Schnittstelle zwischen der virtuellen Domäne und den Geschäftsprozessen der Organisation. Ohne diese Verknüpfung wäre der digitale Zwilling nur ein Tool im Werkzeugkasten der IT, mit überschaubaren Auswirkungen auf die Wertschöpfungskette des Unternehmens.

Ein ERP-System schafft Kontext. Es sorgt dafür, dass ein digitaler Zwilling auf der Prozessebene mit verschiedenen Unternehmensbereichen interagieren kann. Das geschieht über einen bilateralen Informationsaustausch:

  • Einerseits fließen Daten vom ERP-System an den digitalen Zwilling (Auftragsinformationen, Stücklisten, Lagerbestände etc.).
  • Andererseits gibt es einen Datenfluss vom digitalen Zwilling in das ERP-System (produzierte Stückzahlen, Maschinentemperaturen, Energieverbrauch einer Anlage etc.).

Für ERP-Anwender ist der zweite Fall besonders interessant, denn sie profitieren mehrfach davon. Die Daten des digitalen Zwillings verbessern nicht nur die Aussagekraft des betrieblichen Monitorings (z. B. über Dashboards). Sie können auch Workflows im ERP-System triggern und dadurch Routineaufgaben automatisieren.

Denken wir zum Beispiel die smarte Instandhaltung etwas weiter, in Richtung Predictive Maintenance. Wenn wir einen digitalen Zwilling um Machine-Learning-Algorithmen erweitern, kann er Ausfälle innerhalb des physischen Systems prognostizieren und frühzeitig Gegenmaßnahmen einleiten. Ein bevorstehender Defekt triggert ein Event im Instandhaltungssystem, welches einen Wartungseinsatz veranlasst. Das geschieht ohne menschliches Zutun. Somit muss der Service seltener auf akute Notfälle reagieren. Die Fertigung wiederum profitiert von einer höheren Up-Time ihrer Maschinen.

Zusammengefasst

Digitale Zwillinge haben enormes Potential für die Fertigung der Zukunft. Mit ihrer Hilfe können Unternehmen ihre Produktionsumgebung in Echtzeit überwachen, komplexe Simulationen durchführen und Automatisierungs-Workflows entwerfen, die von Sensordaten getriggert werden. Oder kurz gesagt: Ein digitaler Zwilling verknüpft physische Objekte mit digitalen Anwendungen.

Um ihr wahres Potential zu entfalten, brauchen digitale Zwillinge jedoch Kontext. Sie müssen Teil einer IT-Infrastruktur sein, die Informationen aus der virtuellen Welt in der Realität umsetzt. Zu wissen, dass eine Maschine bald ausfällt, reicht noch nicht. Ein Mehrwert entsteht erst, wenn diese Erkenntnis einen Wartungseinsatz auslöst, der den Ausfall verhindert.

Deshalb ist es wichtig, eine Schnittstelle zwischen dem digitalen Zwilling und der Prozessebene des Unternehmens zu schaffen. Für diese Aufgabe ist ein ERP-System perfekt geeignet. Geschäftsabläufe zu virtualisieren gehört schon jetzt zu seinen primären Funktionen. Diese Prozesse mit einem digitalen Modell physischer Systeme zu verbinden ist ein logischer nächster Schritt.

Trotz der technischen Spezifikationen ist es wichtig, die ERP-Einführung nicht als reines IT-Projekt zu betrachten. Fehlendes Change Management provoziert beispielsweise Widerstände gegen das ERP-System und kann Ihr gesamtes Projekt gefährden. Wie Sie diesen (und sieben weitere) Fehler vermeiden, lesen Sie im Asseco-Whitepaper „Die 8 Todsünden eines ERP-Projekts“.