Derzeit befassen sich viele Unternehmen mit der Frage, wie sie auf die Industrie 4.0 reagieren sollen. Auf den ersten Blick scheint die Antwort logisch: Die Digitalisierung kommt und sie wird die Arbeitswelt der Zukunft gehörig umkrempeln. Wer nicht zurückbleiben will, der muss sich so schnell wie möglich anpassen.

Wenn wir uns allerdings näher mit der praktischen Umsetzung befassen, wird klar: ganz so einfach ist die Sache nicht. Bei all den Diskussionen über die Chancen, welche die Industrie 4.0 für deutsche Unternehmen bereithält, vergessen wir leicht einen sehr wichtigen Faktor: den Aufwand. Industrie 4.0 ist nichts, was Unternehmen einfach so nebenbei umsetzen. Sie brauchen neue Technologien, Maschinen und Anlagen, eingebettet in völlig neue Prozesse. Und natürlich gehört dazu auch Personal, das all diese Änderungen in die Tat umsetzt. Das bedeutet: Schulungen, Weiterbildungen und neue Mitarbeiter. Wer all diese Maßnahmen auf einmal realisieren will, sieht sich mit einer gewaltigen Herausforderung konfrontiert – verbunden mit enormen Kosten. Wen wundert es da, dass viele Unternehmen vor dem Projekt Industrie 4.0 zurückschrecken?

Allerdings machen Entscheider bei dieser Interpretation einen Denkfehler: Sie gehen davon aus, dass Industrie 4.0 immer mit einem „Big Bang“ verbunden ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: In den meisten Fällen sind Unternehmen mit einer sukzessiven Vorgehensweise besser beraten – einen Schritt nach dem anderen, aufbauend auf dem, was schon da ist. Beispielsweise können Sie bereits mit einem heute gebräuchlichen ERP-System einen großen Schritt in Richtung Industrie 4.0 gehen.

1. Digitale Warenwirtschaft mit ERP-Unterstützung

Es bedarf keiner großangelegten Umstrukturierung, wenn Sie Prozesse mit Hilfe Ihres ERP-Systems digitalisieren wollen. Schon mit wenig Aufwand können Sie viel erreichen. Als Einstiegspunkt empfiehlt es sich, Standardfunktionen einer ERP-Lösung zu erweitern.

Nehmen wir als Beispiel die Nachbestellung von Komponenten oder Werkstoffen. Die meisten ERP-Systeme können von Haus aus den Lagerbestand verwalten und Alarm schlagen, wenn etwas zur Neige geht. Je nach Schnittstellen und Konfiguration kann die Software sogar automatisch Material nachbestellen. Allerdings basiert die ERP-gestützte Warenwirtschaft nach wie vor auf dem Gegenrechnen von Einkauf und Verbrauch, nicht auf dem tatsächlichen Lagerbestand. In der Praxis ist das nicht unbedingt realistisch, denn es kann immer zu ungeplantem Schwund kommen – Fehler passieren eben. Daher gibt es immer die Möglichkeit, Fehlbestände auch manuell an das ERP-System zu melden.

Genau hier können Sie ansetzen, wenn Sie einen ersten Schritt in Richtung Industrie 4.0 gehen wollen. Statten Sie Ihr Lager mit Sensoren aus, die den realen Lagerbestand messen und in Echtzeit an das ERP-System weitergeben. Beispielsweise könnte eine Kiste mit Schrauben selbstständig den aktuellen Füllstand messen – oder ein Regal meldet per RFID-Kommunikation, wie viele Ersatzteile auf ihm liegen. Wenn Ihr Lager dann feststellt, dass ein bestimmtes Material langsam zu Neige geht, erhält das ERP-System eine Warnung und bestellt automatisch nach. Dazu müssen Sie die Funktionalität der ERP-Software nicht einmal großartig anpassen. Was Sie verändern ist nicht die Warenwirtschaft selbst, sondern die Art und Weise, wie Informationen in das System gelangen – nämlich über Sensoren statt über manuelle Eingaben.

2. Auftragszeiterfassung per Sensoren in Werkstücken

Die Grundidee der Industrie 4.0 mag sich in erster Linie auf die Produktion beziehen. Aber auch andere Unternehmensbereiche profitieren von digitalen Technologien. Das gilt sogar für das Controlling.

Zugegeben, softwaregestützte Auftragszeiterfassung ist mittlerweile ein alter Hut. Aber auch hier besteht Optimierungspotential. Bisher müssen Mitarbeiter verbrauchte Stunden eigenständig in einem digitalen Zeiterfassungssystem buchen. Diese Vorgehensweise hat jedoch einige Nachteile: Zum einen ist sie fehleranfällig. Es kommt immer mal wieder vor, dass jemand eine falsche Zeit bucht oder das falsche Arbeitspaket anklickt. Zum anderen kostet diese Art der Buchung unnötig Zeit. Das betrifft nicht nur die unmittelbare Arbeitszeit. Auch die geistige Rüstzeit steigt: Mitarbeiter müssen immer wieder ihre Tätigkeiten unterbrechen, um im ERP-System zu buchen. Das reißt sie aus ihrem Arbeitsfluss und führt zu Reibungsverlusten.

Im Idealfall stellen Sie Ihr Buchungssystem vollständig auf automatische Auftragszeiterfassung um. Das erreichen Sie über einen kleinen Umweg: Sie statten nicht den Menschen mit Sensoren aus, sondern das Werkstück. In einer Industrie-4.0-Produktionsumgebung sollte dieses Vorgehen sowieso Standard sein. Neu ist allerdings, dass Sie die dabei anfallenden Daten auch zum Zweck der Zeiterfassung verwenden. Erfassen Sie einfach, welche Stationen ein Werkstück durchlaufen hat und wie lange es dort war. Daraus können Sie anschließend die Gesamtdauer des Auftrags ableiten. Besonders einfach haben es natürlich Unternehmen, die nach dem Lean-Prinzip arbeiten, da diese oft das One-Piece-Flow-Verfahren einsetzen. In dem Fall wird das zu bearbeitende Werkstück von einer Arbeitsstation zur nächsten weitergegeben und die Mitarbeiter laufen dabei zu dieser nächsten Station mit – Sie müssen also nur einen einzigen, fließenden Prozess betrachten.

Der Clou daran ist: Sobald die Sensoren in der Produktion stehen, müssen Sie Ihr ERP-System nicht einmal austauschen. Es erledigt die gleichen Berechnungen wie immer. Nur die Daten stammen aus anderen Quellen.

3. Predictive Maintenance als Basis für Zusatzleistungen

Wenn Sie im Bereich Industrie 4.0 schon etwas weiter fortgeschritten sind, bietet sich als nächster Schritt das Thema Predictive Maintenance an. Hierbei statten Maschinenbauer ihre Produkte mit Sensoren aus, die Leistung und Verschleiß messen. Diese Daten dienen anschließend als Basis, um den optimalen Zeitpunkt für die nächste Wartung zu berechnen.

Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen ist Predictive Maintenance etwas aufwändiger zu realisieren. Zusätzlich zu den Sensoren benötigen Sie auch eine IT-Infrastruktur (in der Regel Cloud-basiert), die es Ihnen erlaubt, gemessene Daten zu sammeln und per Algorithmus zu verwerten. Das geht leider über die Funktionen eines ERP-Systems hinaus. Das heißt jedoch nicht, dass Predictive Maintenance noch Zukunftsmusik ist. Es hält schon bei einigen deutschen Mittelständlern Einzug.

Sobald Sie erst einmal Predictive Maintenance als Service anbieten, können Sie in Kombination mit einem heute üblichen ERP-System bereits deutliche Mehrwerte erzeugen – sowohl für Kunden als auch für Ihr eigenes Geschäft. Der Vorteil für den Kunden liegt dabei auf der Hand: Verschleißmessungen und Analysen in Echtzeit sorgen dafür, dass seine Maschinen jederzeit fehlerfrei laufen. Es kommt seltener zu Ausfallzeiten, was wiederum den Gewinn steigert.

Aber wie profitieren Sie als Hersteller der Maschine von Predictive Maintenance (abgesehen von reiner Absatzsteigerung)? Ganz einfach: Sie verwerten die gesammelten Sensordaten für weitere Angebote. Bedenken Sie eins: Als Betreiber der Machine-Learning-Plattform, die hinter Ihrem Predictive-Maintenance-Angebot steht, erhalten Sie die gleichen Daten wie auch Ihre Kunden – und können sie zudem kundenübergreifend verwerten. Beispielsweise können Sie Ihre Kunden hinsichtlich der optimalen Betriebskonfiguration einer Maschine beraten. Oder Sie verschicken Sonderangebote, kurz bevor Material zu Neige geht (Papierrollen, Tinte, …). Die Verwertung von Sensordaten birgt Potential für völlig neue Geschäftsmodelle. Sie müssen einfach nur kreative Wege finden, aus den anfallenden Daten einen Mehrwert für Ihren Kunden und das eigene Unternehmen zu generieren.

In Bezug auf Ihr ERP-System entsteht dieser Mehrwert durch Datenintegration. Die Machine-Learning-Plattform enthält zwar jede Menge Informationen über das Equipment Ihres Kunden – aber erst Ihre ERP-Lösung schafft den dazugehörigen Kontext. Geht beispielsweise Material zur Neige, können Sie automatisch den zuständigen Vertriebsmitarbeitern Bescheid geben. Diese können dann selbst entscheiden, wie sie diese Information möglichst effektiv einsetzen. Und das Beste ist: für den reinen Datenabgleich reicht bereits ein heute verfügbares ERP-System.

ERP-Systeme ermöglichen schon heute erste Schritte in Richtung Industrie 4.0

Gerade mittelständische Unternehmen tun sich mit Industrie 4.0 noch schwer. Zu viele Entscheider sehen die Digitalisierung als eine einzige gewaltige Herausforderung, die gestemmt werden muss. Das ist aber der falsche Ansatz. In Wahrheit ist die Industrie 4.0 eine Sammlung zahlreicher kleinerer Aufgaben. Das Gesamtpaket mag einschüchternd sein – aber für sich gesehen ist jeder Abschnitt machbar. Fangen Sie einfach an, sich dem digitalen Wandel schrittweise zu nähern und Sie werden schon bald erste Erfolge sehen. Bereits heute können Sie Ihr ERP-System dazu einsetzen, Teilbereiche der Industrie 4.0 zu realisieren. Sie müssen es nur angehen.