Was sind die Erfolgsfaktoren eines ERP-Projekts? Dies untersuchte Jens Boywitt. In seiner Dissertation „Referenzstrategien zur ERP-Einführung im mittelständischen Maschinen- und Anlagenbau“ befasste er sich intensiv mit den Erfolgsfaktoren eines ERP-Projekts. Jens Boywitt ist freiberuflicher ERP-Berater und Inhaber des Ingenieur-Büros Boywitt. Seit 1994 unterstützt er mittelständische Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus in den Bereichen Organisations- und Prozessberatung, bei der (Neu-)Strukturierung von Geschäftsprozessen sowie bei der Einführung und Optimierung von ERP-Systemen. Über die Ergebnisse seiner Arbeit haben wir mit ihm ausführlich gesprochen.

Patrick Mathis: Herr Boywitt, Sie haben Ihre Dissertation über ERP-Einführungen geschrieben. Könnten Sie kurz zusammenfassen, worum es in Ihrer Arbeit ging?

Jens Boywitt: Der Titel meiner Arbeit lautete „Referenzstrategien zur ERP-Einführung im mittelständischen Maschinen- und Anlagenbau“. Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage: Wie können Unternehmen aus diesen Branchen sicherstellen, dass ihr ERP-Projekt reibungslos abläuft? Sie sind schließlich in hohem Maße auf ihr ERP-System angewiesen. Es ist ein zentraler Baustein ihrer Wertschöpfungskette. Wenn ein ERP-Projekt im Maschinen- und Anlagenbau schiefgeht, kann das gravierende Konsequenzen für das Unternehmen haben. Ich wollte Entscheidern mit meiner Arbeit konkrete Handlungsempfehlungen an die Hand geben, damit sie die größten Klippen umschiffen können. Dazu habe ich eine Reihe erfolgreicher ERP-Projekte untersucht und die wichtigsten Erfolgsfaktoren herausgearbeitet.

Patrick Mathis: Wie sind Sie denn dabei genau vorgegangen?

Jens Boywitt: Den Kern meiner Forschung bildeten Projektberichte aus der Praxis. Zu diesem Zweck habe ich fünf reale ERP-Projekte in Unternehmen über den gesamten Umsetzungszeitraum begleitet, deren Fortschritt dokumentiert und anschließend analysiert. Die Daten aus diesen Case Studys bildeten dann die Grundlage meiner Dissertation.

Um die Vergleichbarkeit der Case Studys zu gewährleisten, habe ich eine Variante des General Management Navigators (GMN) verwendet, den Prof. Günter Müller-Stewens und Prof. Christoph Lechner von der Universität St. Gallen entworfen haben. Dabei handelt es sich um ein Framework, das den Umgang mit strategischen Initiativen und Veränderungsvorhaben in einer Organisation in fünf Stufen abbildet, die einen Regelkreis formen. Man betrachtet zunächst die Entstehung einer Initiative (Initiierung), klärt die Auswirkungen auf Stakeholder (Positionierung), untersucht anzupassende wertschöpfende Prozesse (Wertschöpfung), analysiert die Umsetzung (Veränderung) und misst anschließend das Ergebnis als Basis für weitere Maßnahmen (Performance-Messung).

Patrick Mathis: Das scheint mir ein eher generelles Modell zu sein. Wie kann ich mir das Ganze bezogen auf den ERP-Kontext vorstellen?

Jens Boywitt: Nun ja, im Prinzip ist ein ERP-Projekt auch nichts anderes als eine strategische Initiative. Also können wir sie anhand des gleichen Schemas betrachten. Zunächst gibt irgendein Unternehmensbereich den Anstoß für die ERP-Einführung. In der Regel kommt dieser Impuls vonseiten der Geschäftsführung. Anschließend betrachten die ERP-Verantwortlichen mögliche Auswirkungen auf Stakeholder sowie den Ist-Zustand aller relevanten Abläufe und Prozesse. Nach der Analyse werden dann neue Prozesse gestaltet und in der Organisation ausgerollt. Das ist natürlich nur eine stark vereinfachte Darstellung. In der Dissertation selbst werden all diese Bereiche weit ausführlicher dargestellt und für den ERP-Kontext angepasst. Aber das gibt Ihnen zumindest einen Eindruck von dem Framework, das ich für die Analyse der Case Studys verwendet habe.

Patrick Mathis: Sie haben also Case Studys realer Projekte anhand des von Ihnen modifizierten Frameworks untersucht. Könnten Sie etwas näher auf die Ergebnisse Ihrer Analyse eingehen?

Jens Boywitt: Aus der Analyse der Case Studys ergaben sich verschiedene Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen für mittelständische Maschinen- und Anlagenbauer. Die interessanteste Erkenntnis betrifft jedoch meiner Ansicht nach ein paar Faktoren, die nur selten bei ERP-Einführungen zu Sprache kommen: So stieß ich auf mehrere Fälle, in denen ERP-Projekte nicht durch unvorhergesehene Problemstellungen ins Wanken geraten sind, sondern durch bewusste Entscheidungen der Geschäftsleitung oder des Projekt-Teams.

Wartung des ERP-Systems.Statt die alten Prozesse einmal zu entstauben, passen Unternehmen lieber das ERP-System an den Status Quo

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Patrick Mathis: Wie kommen solche problematischen Entscheidungen denn zustande? Widerspricht das nicht den Zielen eines ERP-Projekts?

Jens Boywitt: Die Entscheidungen selbst wurden zwar bewusst getroffen. Aber das geschieht nicht mit negativen Absichten. Im Gegenteil: Führungskräfte sahen sich dazu gezwungen, weil sie mehrere Faktoren gegeneinander abwiegen müssen. In solchen Fällen stehen nämlich mehrere Ziele miteinander im Konflikt. ERP-Entscheider müssen sich dann zwischen den einzelnen Zielen entscheiden oder zumindest eine Balance finden. Oft gelingt das aber nicht hinreichend. Und diese Zielkonflikte können dann dem ERP-Projekt schaden.

Lassen Sie mich ein Beispiel dazu geben: Eine der ersten Entscheidungen während der ERP-Einführung betrifft die Auswahl des Projekt-Teams. Auf der einen Seite möchten Unternehmen die besten Mitarbeiter für das ERP-Projekt einsetzen. Damit wollen sie sicherstellen, dass der Einführungsprozess zügig und problemlos abläuft. Aber genau diese Mitarbeiter spielen meistens eine wichtige Rolle im Tagesgeschäft. Sie von ihren Aufgaben abzuziehen, hätte Folgen für die Produktivität der entsprechenden Abteilung. Die Geschäftsleitung sieht sich also mit einem Zielkonflikt konfrontiert: ERP-Projekt oder Tagesgeschäft? Oft zieht die ERP-Einführung hier den Kürzeren – und das führt wiederum zu Verzögerungen, die das Unternehmen bewusst in Kauf nimmt.

Patrick Mathis: Betreffen die Zielkonflikte, die Sie identifiziert haben, nur die Projektorganisation?

Jens Boywitt: Keineswegs. Solche Konflikte tauchen während des gesamten Projektablaufs immer wieder auf. Ein weiteres Beispiel betrifft die Datenqualität. Saubere Stammdaten sind eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche ERP-Einführung. Falsche oder fehlende Daten führen dazu, dass die ERP-Lösung nicht ihr volles Potential ausschöpft. Eigentlich müssten die Stammdaten also vor dem ERP-Projekt überprüft und aufbereitet werden. Das kostet jedoch Zeit und Ressourcen – und beides fehlt oft im Mittelstand. Das Unternehmen steht also auch hier wieder vor einer Entscheidung: Will es die Leistung seines neuen ERP-Systems optimieren oder lieber die Kosten gering halten?

Ein ähnlicher Konflikt lässt sich im Bereich Customizing beobachten. Funktionale Anpassungen des ERP-Systems führen auf der einen Seite dazu, dass die Mitarbeiter ihre Aufgaben schneller und effizienter erledigen können. Die ERP-Lösung passt sich ihren Arbeitsabläufen an und unterstützt sie bei Routineaufgaben. Dadurch steigt nicht nur die Produktivität, sondern auch die Mitarbeiterzufriedenheit. Auf der anderen Seite sind solche Anpassungen teuer und erschweren im Nachhinein die Wartung des ERP-Systems.

Darüber hinaus kommt mit der Prozessperspektive noch ein weiterer Faktor ins Spiel. Viele Unternehmen scheuen davor zurück, Geschäftsprozesse grundlegend zu überarbeiten. Das kann mehrere Gründe haben, von festgefahrenen Gewohnheiten bis hin zu internen Konflikten. Statt die Gelegenheit zu nutzen und die alten Prozesse einmal zu entstauben, passen Unternehmen in solchen Fällen lieber das ERP-System an den Status Quo an. Auch, wenn dieses Vorgehen auf lange Sicht aufwändiger ist. Was Customizing angeht sind Entscheider also in einer Zwickmühle: Wie viele Anpassungen lassen sie vornehmen und an welcher Stelle überarbeiten sie lieber die eigenen Prozesse.

Patrick Mathis: Aber sind das nicht Entscheidungen, mit denen sich Geschäftsführer tagtäglich auseinandersetzen? Wieso spielt das in ERP-Projekten so eine große Rolle?

Jens Boywitt: Am Ende des Tages spielt es keine Rolle, ob ein Problem während der Einführung unvorhergesehen oder das Resultat einer bewussten Entscheidung ist. Allerdings werden beide Gründe unterschiedlich wahrgenommen. Ein Fehler gilt als etwas, das man umgehen oder beseitigen muss. Führt ein Fehler also zu Verzögerungen bei der ERP-Einführung, setzt das Projekt-Team alles daran, das Problem zu beseitigen. Bewusste Entscheidungen werden allerdings oft einfach hingenommen. Dabei können sie ebenfalls erhebliche Konsequenzen haben.

Es ist egal, ob die Geschäftsleitung bei der Wahl der Projektleitung einer Fehlentscheidung unterliegt oder sich bewusst für eine unerfahrene Person entscheidet, die weniger stark in das Tagesgeschäft eingebunden ist. In beiden Fällen leidet das ERP-Projekt unter schwacher Führung, mit allen Konsequenzen, die dazu gehören. Die Geschäftsleitung sollte sich also bewusst machen, dass auch Entscheidungen im Rahmen von Zielkonflikten Konsequenzen haben. Sie einfach hinzunehmen, kann sich im Nachhinein als teuer erweisen.

Patrick Mathis: Herr Boywitt, vielen Dank für das Gespräch und die Einblicke in Ihre Forschungsarbeit.