Aufmerksame Leser unseres ERP-Blogs wissen: Der Erfolg eines ERP-Projekts hängt stark von der Anwenderakzeptanz ab. Wer seine Mitarbeiter nicht rechtzeitig mit an Bord holt, muss mit Verzögerungen und Widerständen rechnen. Aber was bedeutet das eigentlich in der Praxis? Es ist leicht, von Transparenz und Kommunikation zu sprechen. Geht es jedoch um die tatsächliche Umsetzung, sind ERP-Verantwortliche oft ratlos.

Die potentiell positiven Effekte eines ERP-Systems auf die Mitarbeitermotivation finden sich in den meisten Blogs und Fachartikeln zum Thema ERP-Einführung wieder. Dort geht es aber immer nur um die Theorie – das generelle Konzept des Mitarbeiter-Empowerments. Beispiele für die praktische Umsetzung findet man nur sehr selten. Daher wollen wir in diesem Blogbeitrag einmal die Perspektive wechseln und die graue Theorie außen vor lassen. Widmen wir uns stattdessen einem Beispiel, das ich selbst einmal im Kundenprojekt erlebt habe.

Ein Beispiel aus dem Produktionsbereich

Vor einigen Jahren betreute ich einen Kunden aus Österreich, der in der Produktionsbranche tätig ist. Dort setzte sich ein engagierter Produktionsleiter über bestehende Zweifel im Unternehmen hinweg und trieb die Selbstorganisation in der Fertigung voran. Zu diesem Zweck führte er eine moderne, digitale Werkstattsteuerung ein, die sich flexibel an die Wünsche und Anforderungen der Werker anpassen ließ. Die Anpassungsfähigkeit der Maschine war ein wichtiger Punkt, denn der Produktionsleiter gab nicht einfach eine festgelegte Konfiguration vor. Stattdessen bezog er seine Mitarbeiter in die Entscheidung mit ein.

Nach der Installation der Software setzte sich das Team an einen Tisch und sprach über mögliche Anpassungen. Dabei ging es nicht nur um Modifikationen der Benutzeroberfläche. Auch Geschäftsprozesse und deren Abbildung mit dem neuen System kamen zur Sprache. Das Resultat dieser Workshops waren zwei hervorragende Ideen, die letztlich auch genau so in die Tat umgesetzt wurden.

Identifizieren Sie die Kollegen, die von einer Entscheidung besonders betroffenen sind und holen Sie deren Meinung ein. Sie werden staunen, was für nützliche Einblicke Sie dadurch gewinnen!

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1. Digitale Kommunikation von Änderungsaufträgen

Im Produktionsprozess dieses Unternehmens kommt es regelmäßig zu kurzfristigen Änderungen, die von Kundenseite aus gewünscht werden. Änderungswünsche während der Auftragsvorbereitung sind zwar relativ unkompliziert, allerdings kommt die Meldung z. T. erst nach Produktionsbeginn. In dem Fall muss der Fertigungsprozess gestoppt und geändert werden. Die manuelle Methode sah wie folgt aus: Sobald die Meldung eintraf, musste jemand den neuen Auftrag erstellen und ausdrucken, in die Werkshalle laufen und dort die aktualisierten Unterlagen verteilen. Das führte jedes Mal zu unnötigen Verzögerungen.

Heute funktioniert die Werkstattsteuerung bei diesem Kunden komplett digital. Bei einer Änderungsanfrage leuchtet eine rote Ampel auf dem Tablet der verantwortlichen Kollegen auf. Sie wissen dann sofort Bescheid und unterbrechen den Prozess. Sobald alle Details vorliegen, wird der neue Auftrag direkt auf dem Bildschirm angezeigt und die Arbeit kann weitergehen. Da die Werker im Durchschnitt alle drei Minuten auf die digitale Anzeige schauen, konnte der Ausschuss durch dieses einfache Signal drastisch reduziert werden.

2. Anschluss des Lagers an die digitale Werkstattsteuerung

Die Diskussionen im Rahmen des Workshops drehten sich nicht nur um die eigenen Aufgaben der Werker. Ebenso kamen vor- und nachgelagerte Prozesse zur Sprache, zum Beispiel die Vorgänge im Lager. Es stellte sich heraus, dass die Kolleginnen und Kollegen im Warendepot nur wenige Informationen über die aktuellen Fertigungsaufträge besaßen. Bei einer Änderung wurden sie erst spät informiert. Deshalb kommissionierte das Lager immer bis zu 50 Aufträge vor, von denen dann im Nachhinein doch wieder etliche obsolet waren. Das führte letztendlich zu erheblichem Mehraufwand.

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Für die erfolgreiche ERP-Einführung ist die Einbindung aller Mitarbeiter entscheidend.

Heute ist die Lagerverwaltung vollständig in die digitale Werkstattsteuerung integriert. Die Mitarbeiter im Depot sehen genau wie ihre Kollegen in der Fertigung den aktuellen Auftragsbestand in Echtzeit auf ihrem Bildschirm. Sobald eine Änderungsanfrage eintrifft, bekommen sie sofort Bescheid. Dadurch hat sich die Zahl der vorkommissionierten Aufträge von 50 auf drei bis vier reduziert. Das spart Lagerplatz, reduziert Verzögerungen und verhindert unnötige Mehrarbeit.

Die Kollegen miteinzubeziehen birgt ungeahnte Vorteile

Diese Geschichte verdeutlicht meiner Meinung nach sehr anschaulich, warum Unternehmen immer auch ihre Mitarbeiter an der ERP-Einführung beteiligen sollten. Die Diskussionen und Workshops mit dem Fertigungs-Team haben zwar Zeit gekostet, aber dadurch ergaben sich zwei große Vorteile.

Zum einen hat dieser Bottom-Up-Ansatz Problemstellungen und Optimierungsansätze zu Tage gefördert, die Entscheider auf einer höheren Hierarchieebene wohl übersehen hätten. Wie soll beispielsweise die Abteilungsleitung auch wissen, wie die Kolleginnen und Kollegen im Lager bei einer Auftragsänderung vorgehen? Durch den Wechsel der Perspektive konnte das Projekt-Team die Produktionsumgebung in all ihren Facetten betrachten und zahlreiche Abläufe optimieren.

Zum anderen hat sich die Mitsprachemöglichkeit der Mitarbeiter mit Sicherheit auch positiv auf deren Motivation ausgewirkt. Die Geschäftsleitung hat nicht einfach eine Entscheidung über ihren Kopf hinweg getroffen. Sie wurden stattdessen miteinbezogen und bekamen dadurch Einfluss auf ihr eigenes Arbeitsumfeld. Und wie wir wissen, wirken sich Autonomie und Eigenverantwortung deutlich auf die intrinsische Motivation aus. Daher ist dies ein sehr schönes Beispiel für gelungenes Mitarbeiter-Empowerment.

Lassen Sie alle Beteiligten zu Wort kommen

Wie wir an diesem Beispiel sehen, macht es durchaus Sinn, die eigenen Mitarbeiter in die Entscheidung für ein neues ERP-System miteinzubeziehen. Dadurch gewinnen Sie neue Perspektiven hinzu und identifizieren Optimierungspotentiale, die Sie ansonsten übersehen hätten. Hinzu kommen noch die positiven Auswirkungen auf die Mitarbeitermotivation durch mehr Autonomie und Eigenverantwortung. Alles in allem eine durchaus empfehlenswerte Herangehensweise.

Das heißt natürlich nicht, dass Sie für jede Detailentscheidung die gesamte Mannschaft zusammentrommeln sollten. Zu viel Konsenskultur ist auch nicht das Wahre. Achten Sie aber in jedem Fall darauf, dass die Mitarbeiter, die gehört werden sollten, auch gehört werden. Identifizieren Sie die Kollegen, die von einer Entscheidung besonders stark betroffenen sind, und holen Sie deren Meinung ein. Sie werden staunen, was für nützliche Einblicke Sie dadurch gewinnen!

Möchten Sie mehr über die Rolle der Mitarbeiter während der ERP-Einführung lesen? Dann gefällt Ihnen sicher unser Whitepaper „Geschäftsleitung, Key-User und Mitarbeiter: Gewinnen Sie alle Beteiligten für das ERP-Projekt“. Es beschreibt ausführlich, wie Sie es schaffen, dass alle Beteiligten an einem Strang ziehen – von der Geschäftsleitung bis hin zur operativen Ebene.