Heutzutage sind nicht mehr nur Großkonzerne über mehrere Standorte verteilt. Auch der Mittelstand hat längst die Vorteile verteilter Organisationen erkannt. Dementsprechend setzen Entscheider auch von einer ERP-Lösung voraus, dass sie solche flexiblen Strukturen unterstützt. Die Schlagworte in diesem Zusammenhang lauten „mandantenfähig“ und „multisite“ – beides wichtige Entscheidungskriterien für verteilte Unternehmen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen ist vielen Entscheidern allerdings nicht so ganz klar. Es kommt oft zu Verwechslungen. Anwender verwenden beide Wörter synonym oder sagen das eine, obwohl sie eigentlich das andere meinen. Um eines gleich klipp und klar zu sagen: mandantenfähig und multisite bedeuten nicht das Gleiche. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Eigenschaften eines ERP-Systems. Allerdings handelt es sich bei den beiden Begriffen nicht um Gegensätze. Eine ERP-Lösung kann multisite- und/oder mandantenfähig sein – oder keins von beidem. Für uns ist dieses Abgrenzungsproblem jedenfalls Grund genug, einmal einen genaueren Blick auf diese beiden Begriffe zu werfen.

Mandantenfähigkeit – Jede Einheit hat ihre eigene ERP-Instanz

Gehen wir zunächst einmal einen Schritt zurück und befassen uns mit einer anderen Frage: Was ist eigentlich ein Mandant? Im ERP-Kontext verstehen wir unter diesem Begriff einen eigenständigen betriebswirtschaftlichen Akteur, wie zum Beispiel ein Unternehmen oder eine Tochterfirma. Ein ERP-System ist dann mandantenfähig, wenn es in der Lage ist, mehrere Mandanten parallel auf einem physischen System zu verwalten. Jedes Unternehmen bekommt eine eigene Systeminstanz, die auf dessen individuelle Prozessstruktur zugeschnitten ist. Einfacher gesagt: Jeder Akteur hat seine eigene ERP-Instanz.

Klipp und klar: Mandantenfähigkeit und multisite im ERP bedeuten nicht das Gleiche.

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Mandantenfähige ERP-Systeme eignen sich besonders gut für Organisationen, die aus mehreren autonomen Teilorganisationen bestehen. Das heißt jedoch nicht, dass zwischen den Mitgliedern solcher Unternehmensverbünde keine Kooperation stattfindet. Im Gegenteil: Datenaustausch und Prozessinteraktionen über Tochter- bzw. Unternehmensgrenzen hinaus sind in Konzernen quasi Standard. Betrachten wir dazu ein Beispiel:

Tochterunternehmen A bestellt bei Tochterunternehmen B Vorprodukte. B erstellt einen Vertriebsauftrag, einen Produktionsauftrag und liefert schließlich die Ware aus. Dies führt zum Wareneingang bei Unternehmen A. Anschließend schreibt Unternehmen B eine Rechnung, die Unternehmen A ausgleicht.

Unternehmen AUnternehmen B
Bestellung 
 Vertriebsauftrag
 Produktionsauftrag
 Warenausgang
 Rechnungsausgang
Wareneingang 
Rechnungseingang 
Rechnungsausgleich 

Solche „Intercompany“-Geschäfte sind in Unternehmensverbünden und Konzernen Alltag. Daher wäre es ungünstig, wenn für jede Transaktion ein Datenaustausch zwischen verschiedenen ERP-System nötig ist. Was wir wirklich wollen, ist eine Synchronisierung innerhalb eines einzigen Systems, denn das minimiert die Reibungsverluste.

Aktionen im Unternehmen A sollen automatisch Prozesse in der ERP-Instanz von Unternehmen B auslösen können und umgekehrt. Daher sind moderne ERP-Lösungen in der Lage, Daten auch zwischen eigenständigen Mandaten auszutauschen – ohne klobige Schnittstellen. Mandantenfähigkeit ist also nicht gleichbedeutend mit einem „Silodenken“ – Flexibilität ist auch hier das A und O.

Multisite – Ein ERP-System, das mehrere Standorte parallel verwaltet

Bei der Multisite-Fähigkeit steht nochmal eine ganz andere Frage im Mittelpunkt: die Standortorientierung. Bei Multisite-Strukturen kommt ein einzelnes ERP-System zum Einsatz, das jedoch mehrere Standorte gleichzeitig abdeckt. Jede Niederlassung hat hierbei Zugriff auf die Daten des Gesamtunternehmens (Auslastung, Lagerbestände, etc.).

Zusätzlich sind Multisite-ERP-Systeme in der Lage, komplexe, standortübergreifende Organisationsstrukturen abzubilden. Zum Beispiel kann das System Fehlbestände an verschiedenen Standorten identifizieren und Material zentral nachbestellen. Infrastrukturen ohne Multisite-Fähigkeit müssten dazu regelmäßig Statusberichte über ihre Lagerbestände untereinander austauschen.

Vor allem in größeren Unternehmen besonders wichtig: die zentrale Lagerbestandsverwaltung.

Ein Multisite-System behandelt das Unternehmen also nicht als eine Kombination unabhängiger Einheiten, sondern als eine gemeinsame Organisation. Die einzelnen Elemente dieser Gesamtorganisation sind wiederum mittels übergreifender funktionaler Prozesse verbunden. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Intercompany-Prozesse. Die einzelnen Teilbereiche sind rechtlich keine eigenen Akteure (also auch keine Mandanten).

Wichtig für den Multisite-Kontext ist die Möglichkeit, einzelne Standorte separat zu steuern und zu analysieren. Andernfalls genügt auch ein einzelnes ERP-System, das die Daten aller Standorte bündelt und als Gesamtbild auswertet. In manchen Situationen kann es jedoch relevant sein, eine Niederlassung losgelöst von der Gesamtorganisation zu betrachten. Beispiels kann ein Unternehmen einzelne Zweigstellen als Profitcenter mit eigener Gewinn- und Verlustrechnung zu führen. Das geht jedoch nur, wenn für diesen Standort auch eigene Daten vorliegen.

Das richtige System für Ihren Anwendungsfall

Fassen wir also den Unterschied zwischen Multisite- und Mandantenfähigkeit noch einmal kurz zusammen:

  • Mandantenfähige ERP-Systeme können mehrere Instanzen auf einer einzelnen physischen Plattform betreiben. Das erlaubt es dem Betreiber, mehrere eigenständige Organisationen parallel abzubilden.
  • Multisitefähige ERP-Systeme können mit einer Instanz mehrere Standorte einer Organisation steuern. Wichtig ist dabei die Möglichkeit, einzelne Niederlassungen losgelöst zu betrachten.

Allerdings ist die Unterscheidung zwischen beiden Fähigkeiten oft etwas schwammig. Auch mandantenfähige Systeme tauschen Informationen zwischen den einzelnen Mandanten aus – obwohl diese eigentlich getrennt verwaltet werden. Und auch Multisite-Systeme können Standorte als eine Art Mandant betrachten, losgelöst von der Gesamtorganisation.

Mandantenfähigkeit und Multisite sind also weder Synonyme noch Gegensätze, sondern unterschiedliche Eigenschaften eines ERP-Systems – sie haben mitunter unterschiedliche Zielsetzungen, können aber auch in ein und demselben System existieren. Auf jeden Fall sind es wichtige Entscheidungskriterien bei der ERP-Auswahl.

Machen Sie sich vor der Auswahl eines ERP-Systems Gedanken darüber, welche Anforderungen das System erfüllen muss. Wenn Mandantenfähigkeit und/oder Multisite für Sie eine Rolle spielen, sollten Sie die beiden Eigenschaften auf jeden Fall in Ihr Lastenheft aufnehmen. Stellen Sie von Anfang sicher, dass der Umgang mit verteilten Organisationsstrukturen in der ERP-Auswahl zur Sprache kommt – dann wird auch Ihr Einführungsprojekt zum Erfolg.