Sie möchten ein ERP-System einführen – aber welches? In diesem Artikel werden Sie Schritt für Schritt durch den Auswahlprozess geführt. Im zweiten Teil verraten wir Ihnen bewährte Tipps zur ERP-Auswahl aus unserer Erfahrung mit hunderten ERP-Einführungen.

Warum ein systematisches ERP-Auswahlverfahren notwendig ist

Es gibt hunderte ERP-Systeme am Markt, und jedes davon ist laut Anbieter – natürlich – das Beste. Doch jedes System hat andere Stärken und ist für bestimmte Unternehmen oder Szenarien mehr oder weniger geeignet. Ihr Ziel muss deshalb sein, das ERP zu finden, das am besten zu Ihren eigenen Anforderungen passt. Tests oder Top-10-Listen im Internet können zwar Orientierung geben, ersetzen aber keine sorgfältige ERP-Auswahl.

Eine Fehlentscheidung kann hohe Kosten nach sich ziehen. Eventuell sind viele teure Anpassungen notwendig; das Projekt verzögert sich und blockiert Ressourcen. Letztlich kann die ERP-Einführung sogar scheitern, wenn sich herausstellt, dass Kernanforderungen nicht erfüllt werden.

Deshalb sollten Sie die ERP-Auswahl unbedingt systematisch angehen.

Es gibt unzählige ERP-Anbieter. Lesen Sie, worauf Sie bei der Auswahl unbedingt achten müssen.

ERP-Typen: Standard-, Individual- oder Branchensoftware

Grundsätzlich werden ERP-Systeme in drei Kategorien unterteilt.

  • Standardsoftware ist für ein breites Spektrum an Unternehmen gedacht. Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen oder Anwendungsfälle werden durch Module oder Konfigurationsmöglichkeiten abgedeckt.
  • Branchensoftware ist in der Regel schlanker und auf Funktionen fokussiert, die für eine bestimmte Branche relevant sind.
  • Individualsoftware wird speziell für ein Unternehmen und seine Anforderungen entwickelt. Sie lässt sich nur für den vorgesehenen Anwendungsfall einsetzen. 

Mit Standardsoftware oder Branchensoftware fahren Sie am besten, sofern Ihr Unternehmen keine seltene Ausnahme ist. Eine Individualentwicklung ist meist viel zu teuer und unnötig, da sich fast alles mit ERP-Standards abdecken lässt.

Im Folgenden lernen Sie nun sieben Schritte kennen, mit denen Sie eine passende ERP-Auswahl treffen können.

1. Grundverständnis erarbeiten

Wie lange ist die letzte ERP-Einführung bei Ihnen her? Vielleicht 20 Jahre oder länger. Oder es war bisher überhaupt keines im Einsatz. Die ERP-Auswahl ist für die Projektverantwortlichen wahrscheinlich eine ungewohnte und herausfordernde Aufgabe. Deshalb sollten Sie zunächst Ihr Wissen darüber auffrischen und sich mit dem Wesentlichen vertraut machen: mit der Funktionsweise eines ERP, dem zugehörigen Fachvokabular und dem Ablauf des Auswahlprozesses.

Dieser Artikel ist eine tolle Quelle dafür: In den nachfolgend verlinkten Artikeln im Text erhalten Sie jeweils vertiefende Informationen.

2. Ziele und Rahmenbedingungen festlegen

Definieren Sie zunächst die strategischen Ziele der ERP-Einführung. Was möchten Sie erreichen: Wachstum? Ein neues Geschäftsfeld erschließen? Engpässe in bestimmten Prozessen beseitigen?

Definieren Sie KPIs oder messbare Kriterien, an denen Sie den Erfolg festmachen. So können Sie später prüfen, ob das Projekt tatsächlich erfolgreich war.

Legen Sie außerdem einen Zeitrahmen und ein Budget für die ERP-Einführung fest.

3. Anforderungen analysieren

Nach den Vorüberlegungen geht es jetzt an die Kernaufgaben der ERP-Auswahl. Damit Sie später eine begründete Entscheidung treffen können, müssen Sie Ihre eigenen Anforderungen kennen.

Prozesse

Die wichtigste Anforderung an ein ERP ist, dass es Ihre Prozesse unterstützt. Sonst können Sie es nicht für den vorgesehenen Zweck nutzen. Deshalb müssen Sie zunächst alle relevanten Prozesse auflisten

Unterscheiden Sie spezifische Prozessdimensionen:

  • Führung: Unternehmenssteuerung und Unternehmensplanung
  • Kernprozesse (Wertschöpfung): Entwicklung, Produktion, Einkauf, Logistik, Marketing, Vertrieb, Kundenservice
  • Unterstützende Prozesse: Finanzen, Personal, Qualitätsmanagement, IT

Analysieren Sie diese Prozesse auf Ihren IST-Zustand und die Verbesserungspotenziale. Die SOLL-Definition der Prozesse fließt in die Anforderungen ein. Davon wird abgeleitet, welche Funktionen das ERP-System haben muss.

Mehr erfahren: So analysieren und optimieren Sie Ihre Prozesse mit dem ERP-System

Technische und sonstige nicht-funktionale Anforderungen

Neben der Funktionalität muss das ERP-System weitere Anforderungen erfüllen. Dazu gehören Aspekte wie:

  • Anzahl möglicher Nutzer*innen 
  • Leistung
  • Benutzerfreundlichkeit (Usability)
  • IT- und Datensicherheit
  • Schnittstellen zu anderen Systemen
  • Technologien
  • Hosting, Betrieb, Weiterentwicklung und so weiter 

Mehr erfahren: So erstellen Sie einen Anforderungskatalog für Ihr ERP

4. Lastenheft erstellen

Aus den Anforderungen erstellen Sie Ihr Lastenheft. Es ist das Hauptwerkzeug für die ERP-Auswahl: für die Vorauswahl der Anbieter, die Prüfung der Angebote und die finale Entscheidung.

Wichtig: Formulieren Sie im Lastenheft wirklich nur Ihre (prozessorientierten) Anforderungen. Beschreiben Sie keine konkreten Funktionen. Das ist später Sache des Anbieters. Sie schränken sonst Ihre Auswahl nur unnötig ein.

In diesen beiden Artikel erhalten Sie ausführliche Erklärungen dazu:

Fragen Sie die Anbieter, ob Sie mit einigen Referenzkunden sprechen dürfen.

5. Anbieter und Angebote prüfen

Finden Sie durch eine Marktrecherche potenziell passende Anbieter. Vergleichen Sie dafür die erhältlichen Informationen über die Lösungen mit Ihrem Lastenheft. Beantworten Sie unter anderem folgende Fragen:

  • Deckt die Lösung den benötigten Funktionsumfang ab?
  • Lässt sich das ERP in unsere bestehende Infrastruktur integrieren?
  • Baut das ERP-System auf Standardtechnologien auf – oder auf Spezialtechnologien, für die neues, schwer verfügbares Wissen aufgebaut werden?
  • Unterstützt die Software neue und zukunftsfähige Technologien, etwa künstliche Intelligenz?
  • Ist das ERP-System erweiterbar?
  • Besitzt der ERP-Anbieter nachweisbare Branchenerfahrungen und Referenzen?
  • Ist der Anbieter am Markt etabliert und bietet uns hohe Investitionssicherheit?

Weiter unten finden Sie weitere Tipps, auf welche Faktoren Sie bei der ERP-Auswahl achten sollten.

Alle Anbieter, die nach dieser Prüfung noch grundsätzlich infrage kommen, bilden Ihre sogenannte Longlist. Kontaktieren Sie diese Anbieter. Senden Sie ihnen das Lastenheft. Fordern Sie eine erste Einschätzung, ein Angebot und weitere Informationen an.

Wählen Sie aus den Rückmeldungen vier bis sieben geeigneten Anbieterkandidaten aus. Präsentieren und diskutieren Sie diese intern im Projektteam. Erstellen Sie anschließend eine Shortlist mit zwei bis drei ERP-Lösungen. Führen Sie mit den Anbietern einen Detailworkshop durch. Dabei können Sie Software und Anbieter gründlich unter die Lupe nehmen.

Mehr erfahren: So kommen Sie von der Longlist zur Shortlist

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Erfahren Sie, wie Sie die ERP-Anbieter auf Ihrer Shortlist systematisch überprüfen und in Workshops die relevanten Informationen ermitteln.

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6. Referenzen prüfen

Seriöse ERP-Anbieter nennen Referenzkunden; meist direkt auf der Website. Anhand der Erfahrungen der bestehenden Kunden können Sie prüfen, ob der Anbieter hält, was er verspricht. Sie bekommen Einblicke, wie sich das ERP-System in der Praxis bewährt und worauf Sie speziell achten sollten. 

Fragen Sie die Anbieter, ob Sie mit einigen Referenzkunden sprechen dürfen. In einem Interview können Sie Fragen wie diese stellen:

  • Wie war die Erfahrung mit dem Anbieter? Wie umfangreich hat er beispielsweise bei der Integration geholfen?
  • Wie benutzerfreundlich ist das ERP-System?
  • Wie stabil läuft es?
  • Gibt es Probleme?
  • Sind dem Kunden gewisse Dinge erst bei der Nutzung bewusst geworden (gut oder schlecht)?

Nicht jeder Referenzkunde wird seine Erfahrungen offen mit Ihnen teilen; insbesondere dann, wenn es ein Unternehmen derselben Branche ist. Dennoch ist es einen Versuch wert. Selbst allgemeinere Aussagen helfen Ihnen, Ihren Eindruck eines Anbieters zu vervollständigen.

7. Entscheidung zur ERP-Auswahl treffen

Im letzten Schritt der ERP-Auswahl entscheiden Sie sich für ein System. Sie führen Vertragsverhandlungen, nehmen das Pflichtenheft ab und unterzeichnen den Vertrag.

Es gibt unzählige ERP-Anbieter. Lesen Sie, worauf Sie bei der Auswahl unbedingt achten müssen.

Bewährte Tipps für die ERP-Auswahl

Sie möchten noch ein paar Profi-Tipps für die Auswahl? Sehr gerne. Hier kommen sie:

Entscheiden Sie sich nicht automatisch für das günstigste Angebot

Natürlich sind die Kosten für das ERP-System einer der wichtigsten Faktoren bei der Auswahl. Sie sollten jedoch nicht allein aufgrund des Preises entscheiden. Er sagt allein wenig aus. Die tatsächlichen Kosten können sonst später weitaus höher sein als der Preis im Angebot, wenn Sie falsche Entscheidungen treffen.

Verwenden Sie die Angebotspreise stattdessen, um Ausreißer auszusortieren. So gehen Sie vor: Listen Sie die Angebote aller ERP-Anbieter auf und berechnen Sie den Mittelwert. Dann legen Sie fest, wie weit vorgeschlagene Preise Ihrer Meinung nach von diesem Mittelwert abweichen dürfen (15 bis 25 Prozent sind ein guter Wert). Alle Angebote, die außerhalb dieses Rahmens liegen, können Sie getrost aussortieren.

Bei Ausreißern nach oben ist dieses Vorgehen leicht verständlich. Wer will schon den doppelten Marktwert für sein ERP-System bezahlen? Sie sollten jedoch auch Ausreißer nach unten kritisch sehen. Dabei handelt es sich oft um Lockangebote unseriöser Anbieter, die später mit teuren Serviceverträgen und Individualanpassungen aufwarten. Schauen Sie lieber nach Anbietern mit fairen, marktüblichen Preisen.

Unterscheiden Sie zwischen Muss- und Kann-Anforderungen

Kein ERP-System erfüllt alle Wünsche und passt zu 100 Prozent zu Ihren Anforderungen. Deshalb sollten Sie bei der Auswahl nicht die Maximalkriterien ansetzen. Unterscheiden Sie klar zwischen Muss- und Kann-Anforderungen.

Wählen Sie eine Software aus, die Ihre Muss-Anforderungen erfüllt und darüber hinaus möglichst viele weitere. Wenn Sie nicht Ihre Ideallösung finden, setzen Sie Schwerpunkte, die bei Ihrer Entscheidung höheres Gewicht haben sollten.

Berücksichtigen Sie die Usability des ERP-Systems

Ein Faktor, der gerne übersehen wird und auch nicht in den Angeboten steht: die Usability oder Benutzerfreundlichkeit des ERP-Systems. Eine Software mag faktisch alle Anforderungen erfüllen. Wenn die Mitarbeitenden sie jedoch nicht gerne nutzen, bringt das alles wenig.

Achten Sie deshalb im Auswahlprozess auch auf Aspekte der Usability: Ist die Bedienung einfach oder kompliziert? Sehen die Oberflächen modern und aufgeräumt aus? Findet man Informationen schnell? Macht es Spaß, damit zu arbeiten?

In Produkt-Demos erkennen Sie solche Dinge relativ schnell. Lassen Sie sich die Bedienung der einzelnen Funktionen vorführen. Fragen Sie die Referenzen des Anbieters nach dem Feedback der Anwender*innen.

Achten Sie auf die Chemie mit dem Anbieter

Ist es nicht unprofessionell, Persönliches in eine strategische Entscheidung einzubeziehen? Schließlich sind auf beiden Seiten Profis am Werk, die ihren Job ungeachtet von persönlichen  Sympathien und Antipathien erledigen.

Tatsächlich hat die persönliche Ebene immensen Einfluss auf den Ablauf eines ERP-Projekts. Sie muss deshalb berücksichtigt werden. Wenn sich die Beteiligten untereinander kaum ertragen, steigt das Risiko für Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Konflikte. Dies wiederum führt zu Verzögerungen und Mehrkosten.

Achten Sie von Anfang an auf ein gutes Verhältnis zwischen Ihrem Projektteam und den Mitarbeitenden des Anbieters. Sie sparen sich so viel Ärger. Bestehen Sie darauf, Ihre späteren fachlichen Ansprechpartner*innen schon im Vorfeld kennenzulernen. Holen Sie Ihr Team dazu und reden Sie ganz ungezwungen miteinander. Treffen Sie sich auf ein Bier. Lassen Sie den ERP-Anbieter wissen, ob die Chemie stimmt oder nicht. Ein seriöser Anbieter wird Ihre Bedenken ernst nehmen – denn unnötige Konflikte schaden am Ende beiden Seiten.

Prüfen Sie die Flexibilität des Anbieters

Im Verlauf der ERP-Einführung werden garantiert Änderungen nötig. Vielleicht müssen Anforderungen konkretisiert werden oder kommen ganz neu auf. Oder es gibt unvorhergesehene Probleme. Wie flexibel ist der ERP-Anbieter dann?

Das sollten Sie bereits im Auswahlprozess herausfinden. Überlegen Sie: Wie haben die Anbieter auf unsere Anforderungen, Probleme und Rückfragen reagiert? Sind sie von Anfang an auf uns eingegangen oder haben sie nur plumpe Sales Pitches geliefert? 

Stellen Sie Fragen in den vorbereitenden Gesprächen:

  • Gibt es ein Meeting, um die gemeinsame Einführungsstrategie zu besprechen?
  • Wie sieht die Ressourcenplanung aus? Was benötigt der Anbieter noch von Ihnen?
  • Was passiert, wenn die Ressourcen nicht verfügbar sind?
  • Lässt sich der Anbieter auf Ausstiegsklauseln oder flexible Finanzierungspläne ein?

Mehr erfahren: Ist die agile ERP-Einführung sinnvoll?

Fazit: Eine systematische ERP-Auswahl spart letztlich Zeit und Geld

Die ERP-Auswahl klingt nach einer Menge Arbeit und das ist sie auch. Eine Abkürzung gibt es jedoch nicht. Letztlich wird Ihnen gewissenhafte Vorbereitung mehr Zeit und Geld sparen, als sie kostet.

Führen Sie deshalb den ERP-Auswahlprozess systematisch durch und überspringen Sie keinen der Schritte. Sehen Sie ihn als Investition in den Erfolg der ERP-Einführung und damit die Zukunft Ihres Unternehmens.