Lean Management und ERP-Systeme gelten nach wie vor in vielen Unternehmen als Gegensätze. Der eine Ansatz verspricht schlanke, agile Prozesse mit möglichst wenig Ballast – der andere umfassende Strukturen, die Übersicht und Kontrolle über alle Vorgänge im Unternehmen erlauben. „Beides zusammen ist nicht möglich“, hört man oft in der Praxis. Aber stimmt das wirklich? Schließen sich Lean Management und ERP-Systeme kategorisch aus?
Lean-Befürworter sehen ein ERP-System oft als überflüssigen Ballast
Den vollständigen Zusammenschluss von Lean Management und ERP-Systemen findet man nur selten in freier Wildbahn. Beide übernehmen in der Regel getrennte Aufgaben und kommen nur selten miteinander in Berührung. Wenn die Produktion Lean arbeitet, bleibt das ERP-System in dem Bereich außen vor. Die ERP-Lösung übernimmt dann andere Aufgaben, wie etwa Lagerverwaltung oder Materialbestellung – aber mit der Produktion direkt hat sie nichts zu tun. Auf den Zusammenschluss beider Welten – Lean und ERP – verzichten Entscheider ganz bewusst, um ihre Prozesse möglichst schlank zu halten.
Die Vorwürfe der Lean-Fraktion in Richtung ERP sind dabei immer die gleichen: ERP-Systeme sind starr und unflexibel. Die Integration eines ERP-Systems in den Arbeitsablauf führt zu unnötigen Prozessschritten. Mitarbeiter müssen ständig ihren Arbeitsfluss unterbrechen, um Abläufe im ERP-System zu buchen. Und das widerspricht wiederum dem Muda-Prinzip (jap. für Verschwendung), einer wichtigen Säule des Lean Managements: „Verschwendung ist in jedem Fall zu vermeiden“.
Das umfasst natürlich auch unnötige Einzelschritte. Diese Ansicht führt wiederum dazu, dass viele Lean-Unternehmen die Produktionsabteilung von dem (ihrer Ansicht nach) überflüssigen Ballast der ERP-Integration befreien. Erst nach Abschluss der Fertigung bucht die Verwaltung den Vorgang im System.
Aus ERP-Sicht ist diese Konstellation natürlich nicht ideal. Der Nutzen einer ERP-Lösung liegt in der umfassenden Sicht auf das ganze Unternehmen. Wenn das System nur einen Teil der Organisation abbildet, verlieren entsprechende Analysen an Aussagekraft. Ihnen fehlt eine solide Datenbasis. Diese schlechte Datenqualität kann den Erfolg des ERP-Projekts gefährden. In der Folge kann das ERP-System auch nicht sein volles Potential entfalten Es ermöglicht immer nur Teilaussagen – und das ist nicht der Sinn einer ERP-Lösung.
Zwischen ERP und Lean Management bestehen Synergien
Der Konflikt zwischen ERP Lean Management beruht allerdings auf einer Fehlannahme: Die meisten Kritiker setzen ERP-Systeme nämlich ausschließlich mit zusätzlichen Prozessschritten gleich. Die Vorteile, die ein ERP-System mit sich bringt, kommen in dieser Diskussion gar nicht zum Tragen. Dabei können beide Ansätze durchaus Synergien entwickeln.
Ein ERP-System hilft dabei, überflüssige Prozesse zu erkennen und zu verbessern.
Teil der ERP-Einführung ist in der Regel auch eine Prozessanalyse samt Neuordnung bestehender Strukturen im Unternehmen. Diese Neustrukturierung ist jedoch nicht das eigentliche Ziel eines ERP-Projekts. Die optimierten Prozesse dienen nicht dem Selbstzweck. Sie sind lediglich ein Werkzeug, um die Organisation effizienter und vor allem transparenter zu gestalten. Ein ERP-System soll Prozesse nicht komplexer machen – im Gegenteil: Es soll dabei helfen, Überflüssiges zu identifizieren und zu verbessern. Und das entspricht wiederum genau dem schlanken, agilen Ansatz des Lean Managements.
Viele Teile der Lean Production profitieren von ERP
Nehmen wir zum Beispiel das bereits beschriebene Muda-Prinzip. Auf der einen Seite ist es korrekt, dass ein ERP-System ein gewisses Maß an Pflege benötigt. Ihre Mitarbeiter müssen darauf achten, das System stetig mit aktuellen Daten zu versorgen – sonst kann es seine Aufgabe nicht adäquat erfüllen. Das führt natürlich in manchen Fällen zu zusätzlichen Arbeitsschritten.
Allerdings sollten wir auf der anderen Seite nicht vergessen, dass eine ERP-Lösung das Ausmaß an Verschwendung an anderen Stellen wiederum reduziert. Es sorgt zum Beispiel dafür, dass Anwender jederzeit die Informationen zur Hand haben, die sie gerade brauchen. Das reduziert den Recherche-Aufwand. Alle Daten, die den nächsten Arbeitsschritt betreffen, sind sofort auf dem Display verfügbar – kein unnötiges Herumsuchen mehr. Sollten doch einmal ungeplante Änderungen auftreten, sind die aktualisierten Daten sofort am Arbeitsplatz ersichtlich.
Und auch andere Lean-Production-Prinzipen profitieren von den technischen Möglichkeiten eines ERP-Systems. Betrachten wir beispielsweise den Ansatz Poka Yoke. Hierbei handelt es sich um das Prinzip der Fehlervermeidung. Arbeitsabläufe sind nach Poka Yoke so zu gestalten, dass Fehler gar nicht erst auftreten können. Beispiele hierfür sind Komponenten, die sich bereits hardwareseitig nur auf eine Weise einbauen lassen, damit keine Fehl-Montagen auftreten. Der Mehrwert eines ERP-Systems in diesem Zusammenhang liegt auf der Hand: Es erlaubt umfangreiche Plausibilitätsprüfungen und Anwendungshilfen, die Fehler bereits im Vorfeld eindämmen. Beispiele hierfür sind:
- Pick-by-Light-Montage: Eine visuelle Markierung zeigt, welche Komponenten im nächsten Arbeitsschritt gebraucht werden
- Das System nimmt falsch eingetragene Telefonnummern oder E-Mail-Adressen nicht an (z. B. weil ein @-Symbol fehlt)
- Sicherheitskritische Prüfungen müssen im ERP-System extra quittiert werden, bevor der Prozess weiterläuft
ERP und Lean Management schließen sich also nicht grundsätzlich aus. Smart implementiert können sich beide Systeme sogar gegenseitig unterstützen und ungeahnte Synergien entwickeln. Aber machen wir uns nichts vor: Es gibt durchaus Situationen, in denen sich beide Ansätze in die Quere kommen. Wir gehen wir in solch einem Fall vor?
Nicht alle Bereiche des Lean Managements brauchen unbedingt ERP-Unterstützung
Auch in Konfliktfällen müssen wir ERP-Systeme und Lean Management nicht zwangsläufig als strikte Gegensätze ansehen. Es ist durchaus möglich, beide Ansätze mit minimalen Berührungspunkten parallel zu betreiben – eine Art friedliche Koexistenz.
Betrachten wir dazu ein Beispiel. In einer One-Piece-Flow-Produktion begleiten die zuständigen Mitarbeiter das Werkstück, an dem sie arbeiten, von Anfang bis Ende. Jedes Teil fließt dabei ohne Zwischenlagerung durch die Produktion. Damit stellt das One-Piece-Flow-Verfahren einen Gegensatz zu der heute gebräuchlichen Losgrößenfertigung dar, bei der die Werkstücke in Losen von Station zu Station weitergereicht werden.
Ganz gleich ob Einzelfertigung oder Serienproduktion, Lean Management und ERP bieten durch ihre Synergie den größtmöglichen Mehrwert.
Ziel des Ganzen ist es, Reibungsverluste und Fehler zu minimieren, die bei der Koordination verschiedener Abteilungen und den eventuellen Buchungsprozessen auftreten. Darüber hinaus spielt auch Personal-Management eine Rolle. Das One-Piece-Flow-Verfahren reduziert die Monotonie im Produktionsbereich und sorgt damit für mehr Motivation am Arbeitsplatz.
Wir müssen allerdings auch festhalten, dass One-Piece-Flow-Produktion eigentlich keine direkte ERP-Unterstützung benötigt – zumindest nicht was die internen Abläufe angeht. One-Piece-Flow ist darauf ausgelegt, Reibungsverluste zwischen Arbeitsschritten zu minimieren. Ein klassisches ERP-System würde den Ablauf dagegen stören.
Die Mitarbeiter müssten ständig innehalten, um Daten einzutragen – was wiederum ihren Arbeitsfluss unterbricht. In manchen Situationen mag zumindest die Teilintegration eines ERP-Systems unvermeidlich sein (z. B. wenn es um seriennummerngeführte Artikel geht) – aber grundsätzlich gilt, dass ERP-Unterstützung im One-Piece-Flow-Verfahren nur eine geringe Rolle spielt. Es gibt schließlich keine Arbeitsschritte zu koordinieren, da das Werkstück ohne Unterbrechung durch die Fertigung fließt.
ERP-System und Lean Management in friedlicher Koexistenz
Das heißt jedoch nicht, dass ERP-Systeme in einer One-Piece-Flow-Produktion völlig überflüssig sind. Die internen Fertigungsabläufe mögen nicht von ERP-Unterstützung profitieren – die Produktionsabteilung als Ganzes allerdings schon. Auch One-Piece-Flow-Unternehmen müssen den Status ihrer Aufträge sowie den aktuellen Materialbedarf kennen. Hier kann wiederum ein ERP-System weiterhelfen – und sei es nur in geringerer Intensität.
Nehmen wir zum Beispiel an, die zuständigen Mitarbeiter buchen nur den Beginn und den Abschluss eines Produktionsvorgangs im System – aber nicht die Schritte dazwischen. In dem Fall haben Sie das Beste aus beiden Welten. Sie haben den vollen Überblick über Auftragsstatus und Ihre Mitarbeiter können ungestört ihrer Arbeit nachgehen.
Noch geringere Reibungsverluste erhalten Sie, wenn Sie den Bericht am Ende der Produktion teilautomatisieren. Anstatt den Statusbericht manuell in das ERP-System einzutragen, könnten Ihre Mitarbeiter beispielsweise einfach einen Barcode oder einen RFID-Tag einscannen, der alle nötigen Informationen enthält. Der Übergang von einem Fertigungsauftrag zum nächsten läuft so deutlich flüssiger ab.
Lean Management und ERP – eindeutig kein Widerspruch
Wie Sie sehen schließen sich ERP und Lean Management nicht kategorisch aus. Beide Ansätze können problemlos koexistieren oder sogar Synergieeffekte entwickeln. Das beste Vorgehen hängt jedoch stark vom Kontext ab. In manchen Fällen kann ein ERP-System die Lean Production durch die zielgerichtete Bereitstellung von Informationen unterstützen. In anderen Fällen müssen Sie Schnittstellen schaffen, damit sich beide Prinzipien nicht in die Quere kommen. Die genaue Lösung ist immer situationsbedingt. Aber egal, wie sie auch aussieht – Lean-Befürworter sollten sich von der Annahme verabschieden, dass ERP-Systeme für sie nur ein Hindernis darstellen. Mit der richtigen Strategie und abgestimmten Prozesse können Sie das Beste aus beiden Welten haben.